Wendezeit - Zeitenwende

Ende der Bescheidenheit?
Junge DDR-Schriftsteller spitzen ihre Federn

Zwischen dem Ruf und der Ankunft des Taxis liegt eine runde halbe Stunde, knatternd trifft es vor dem „Metropol” ein, Alles wird bedeutsam, wenn man ins Fremde aufbricht. Der forschende Blick des Fahrers scheint mir ein bißchen mit Spott unterlegt zu sein, als ich mein Ziel nenne: „Gabelsbergerstraße.” - „So? Dort wohnt ein junger, sehr guter Schriftsteller.” Der Wartburg singt mit hohem Ton die Friedrichstraße hinunter. Einen Taxifahrer, der auch die literarische Topographie seiner Stadt beherrscht - wo gibt's das noch? Seltsam übergangslos aber, als hätte er einen höheren Gang eingelegt, lotst er das Gespräch in die Politik: Honecker-Besuch, Flaggen-Zeremonie, die Ewiggestrigen, die den Staatsratsvorsitzenden ausbuhten in Wiebelskirchen. Was so überraschend harmlos begann, entwickelt sich gleichsam zum Verhör. Noch ein paar Sätze zur Präambel des Grundgesetzes, und wir sind am Ziel.

Der Kaffee wird in Keramiktassen gereicht, die der im letzten Jahr nach West-Berlin übergewechselte Schriftsteller Sascha Anderson geformt hat. In der stillen Seitenstraße, oben im vierten Stock, wohnt es sich nicht schlecht. Auf diese geräumige, helle Wohnung mit ihren hohen Decken haben der Schriftsteller Lutz Rathenow und seine Frau lange warten müssen. Das Wort „wohnen” hat hier einen ganz eigenen Klang. Man hat die Mühen der Suche mitzubedenken, die Anspruche einer Gesellschaft, die das Private als etwas ihr Entzogenes beargwöhnt. Der Hausherr gilt als erfolgreicher Wanderer zwischen den Welten und gibt sich Mühe, befreundeten Schreibkollegen die Tür zum verlegerischen Wunderland Bundesrepublik einen Spaltbreit zu öffnen.

Mir gegenüber sitzt Detlev Opitz, in dessen Schublade zwei, drei Romane liegen, der aber wenig Lust hat, sie einem der raren DDR-Verlage anzudienen. Einen Text von ihm haben sie in „Sinn und Form” verstümmelt, jetzt schreibt er nur noch in Zeitschriften, die im Verborgenen blühen. Abends fällt mir dann prompt eine auf löschblattweiches Papier gedruckte Anthologie in die Hand, die der Lyriker Rainer Schedlinski aus Anlaß des Berliner Kirchentags zusammengestellt hat „…rülpsend durch entsicherten Beton, gelb reflektierend sand, ein minenquadrat, stiefelleder, einschuf3gesottenes Holz, brünstiges ef-e-Violett, staubschweißtücher: Ich hab' kein Geld und keinen Samen, ich bau’ mir ne Mauer, da wacht es sich gut, ich bau' mir ne Mauer, da stirbt es sich gut.”

Opitz liebt die scharfen, rotzigen Töne, seine Sprache der poetischen Denunziation ist eine provokative Absage an die „Nischenexistenz”, die Räume des Begehrens und der subjektiven Ansprüche werden weit hinausverlegt. Das Angebot, in unserer Zeitung zu schreiben, kontert der anarchische Geist mit dem Verdacht, daß auch wir im Westen seine Provokationen nicht ertragen könnten.

Es fällt schwer, dieser Stadt mit einfachem Staunen, mit der Unverbindlichkeit des Flaneurs zu begegnen. Es ist ein Sichbelauern der Menschen, und die von märkischen Kohlewinden zerfressenen Mauern starren einen an, als wollten sie ihren Platz zugewiesen bekommen, einen Platz, den die Geschichte ihnen verweigert. Der Übergangsplatz Berlin zermürbt die eindeutigen Stand-Punkte, zwei Standflachen stoßen aneinander, und die Hoffnungen gürten sich mit einem Wall aus Draht und Stein. Michel Butor nannte Berlin einen „leidenschaftlichen Horchposten”, der die Erschütterungen der Weltpolitik registriert.

Die Stadt als Instrument: Sie stellt ihre Ansprüche an den Menschen, und der hat sie abzuschütteln wie einen lästigen Gast. In keiner Stadt der Welt fragen die Besucher so viel wie hier in Ost-Berlin, und nirgendwo gleichen die Antworten so sehr einem Riegel, den der Gefragte vor seinen kleinen Winkel der Geschichte schiebt. Das beklemmende Gefühl, das die sondierenden Gespräche zwischen dem Deutschen aus dem Westen und dem aus dem Osten grundiert, ist Scham. Der eine schämt sich dafür, daß sein Interesse für den anderen nur aus Neugierde, Voyeurismus besteht, der andere dafür, daß seine Fragen immer nur auf den konkreten Nutzen zielen, den der Westgast bringen konnte. Der aus dem Westen schämt sich, daß sich der aus dem Osten schämt für die Unzulänglichkeiten, die der Gast im Restaurant, beim Einkauf, an der Grenze zu ertragen hat. Beide schämen sich über ihre gemeinsame Geschichte, die ihnen an jeder Ecke dieser Stadt entgegenblickt.

So zum Beispiel über den Anblick der Sperranlage im Stadtteil Prenzlauer Berg, Oderbergstraße. Der Osten schiebt sich hier ganz ungeniert in den Westsektor hinein. Drüben ragt eine Aussichtsplattform, unter ihr laufen Hundeführer Patrouillen. Zurufe sind möglich, nur wenige Meter trennen Ost- und Westteil der Stadt. Wäre dieses Monsterbauwerk in Rom oder Madrid aufgetürmt worden, fiele es nicht schwer, sich an dieser Stelle einen verbalen „Grenzverkehr” vorzustellen, eine südländische Heiterkeit, die die Trennung überspielt. Wir aber starren uns an, in sprachloser Arroganz. Die da drüben, der größere, erfolgreichere, selbstbewußtere Teil, von oben herab, wir da unten als Objekte einer hochmutigen Neugierde, die wie durch ein Gitter in einen überfüllten Gefängnistrakt zu spähen versucht. Am Vortag bin ich selbst noch auf einem dieser Podeste gestanden, jetzt spüre ich hier unten das Fragwürdige solcher Vorrichtungen, die ein ganzes Land zum Panoptikum machen. Wir starren uns wechselseitig an und schauen doch nur in den blinden Spiegel deutscher Möglichkeiten.

Man kann es sich einrichten in Ost-Berlin. Der Wunsch, sich hier niederzulassen, hat viele Väter. Der „Westen im Osten” ist Konsumparadies für den, der über Westgeld verfügt. Auch sonst ist die Versorgung besser als in Leipzig oder Dresden. Auch die Versorgung mit heruntergekommenem Wohnraum, der sich seit 1980 größter Beliebtheit bei der landmüden Jugend erfreut. Der Schriftsteller und Fotograf Thomas Günther - Jahrgang 1952, er hat schon ein Buch im Westen veröffentlicht und zur Buchmesse erscheint das zweite - bewohnt mit seiner Frau und einem Kind eine große Altbauwohnung unweit des Alex. Zweimal in der Woche arbeitet er als Hilfsgärtner auf dem Friedhof, der bis an das Haus heranreicht, in einer Oase der Ruhe, deren erdige Düfte durch die großen Fenster in die Wohnung hereinziehen. Aus dem Baumwipfelteppich ragt grau und spitz der Fernsehturm und erinnert daran, daß wir uns hier im Zentrum der DDR-Regierungsmacht befinden und nicht etwa irgendwo in ländlicher Idylle zwischen Ettersburg und Tiefurt.

Thomas Günther, der Rimbaud übersetzt und den Text mit Fotocollagen illustriert hat - für die Schublade, denn eine Chance der Veröffentlichung sieht er nicht -, ist ein Lyriker der neuen Generation. Der Exodus zahlreicher Künstler und Schriftsteller nach Biermanns Ausweisung 1976 hat keine Resignation, ganz sicher aber einen Rückzug aus der Politik, aus dem gesellschaftlichen Engagement bewirkt. Mit der Entdeckung des eigenen Ich ging die Entdeckung außergesellschaftlicher Wirklichkeit einher. Wo sich bei Lutz Rathenow noch die gesellschaftliche Wirklichkeit in parabelhafter Spiegelung erhalten hat, löst sie sich bei anderen auf in Sprachstückwerk, das die Sprache des Staates unterwandert. Geschildert wird die Realität des Alltags, der aus der Unterdrückungsdialektik von staatlichem Machtanspruch und gefordertem „produktivem” Einspruch des Künstlers herausgefallen ist.

„Einer zu sein, der von sich selbst abweicht oder mit seinen Überzeugungen nichts erreicht” - das Desaster politischen Agierens im versteinerten Raum der sozialistischen Gesellschaft treibt auch Thomas Günther um. So führen die meisten poetischen Wege hinaus aus den Minenfeldern gesellschaftlichen Engagements in das Experimentierfeld anarchischer Sprachfreiräume: zu Sprachkonkretisten wie Wittgenstein, Derrida oder Heißenbüttel. Den Experimentierräumen der Sprache entspricht der Lebens- und Existenzfreiraum, den sich die jungen Autoren erobert haben.

Die Sophienkirche, Berlins einzige noch erhaltene Barockkirche, ist überfüllt. Auf handgeschriebenen Plakaten und in hektographierten Zeitschriften ist der Auftritt von Stephan Krawczyk unter dem harmlosen Titel „Werkstatt der offenen Arbeit” angekündigt. Der Liedermacher ist republikweit bekannt. Angefangen hatte er vor Jahren mit einem Repertoire an Brecht-Liedern, dann engagierte er sich im „Friedensdienst” und ist als pointierter Kritiker des DDR-Staates inzwischen auch den Kirchenoberen zum Problem geworden. Krawczyk, untersetzt, mit kurzgeschorenem Haar und dunklen Augen, besitzt eine auffallende Ähnlichkeit mit seinem Vorbild Bert Brecht. Die Stimme aber hat nichts von dessen Schneidigkeit, sie ist dunkel-sonor, von behäbiger Freundlichkeit.

Weniger freundlich sind gleich zu Beginn des Konzerts seine Vorwürfe an die Kirche, die seit März dieses Jahres seine Auftritte in kirchlichen Räumen einzuschränken versucht: „Feigheit und fehlende Konfliktbereitschaft” wirft er den Zuständigen vor. Daß er diese Konfliktbereitschaft besitzt, beweist der Liedermacher in seinem Bänkellied „Der Staatsfeind”. Mit einer jetzt schneidend-aggressiv gewordenen Stimme singt Krawczyk von der „DDR”-Sprache, „die uns an die Leine legt”, und verhöhnt den Zweckoptimismus der Parteitagsdelegierten. Unter dem Apsisbogen der Kirche, dessen Schlußstein sinnigerweise von einer schneeweißen Friedenstaube geschmückt ist, intoniert er eine Hymne des Widerstands („Mein Programm heißt Widerstehn!”) - ein Brecht-Epigone, der in Gestik und Stimmfülle zum Biermann-Konkurrenten aufläuft.

„Treibt’s nicht zu weit, ansonsten kommt die Sicherheit”: Die Rede von der tickenden Bombe im Wahllokal, von Reiseverbot, Schießbefehl, vom „Balance-Akt” auf der Mauer, von der brutal unterdrückten Demonstration auf der Ostseite des Brandenburger Tors, seine Parodie auf das Stadtjubiläum, die stürmisch gefeierten Songs zu Gitarre und Zieharmonika müssen selbst einen stenographiegewandten Stasi-Mann ins Schwitzen bringen. Stephan Krawczyk ist auf Konfrontationskurs, will den Dialog mit der DDR-Regierung herbeizwingen - und ist schon dabei, sich aus dem Resonanzraum der Kirche hinauszusingen. Er, der ein offizielles Berufsverbot vorweisen kann und auch ins „befreundete” Ausland nicht mehr reisen darf, sieht offensichtlich das Ende der Bescheidenheit für gekommen. Die Tragik dabei ist, daß er mit seiner bewundernswerten Entschiedenheit das komplizierte Verhältnis Kirche - Staat durcheinanderzubringen droht. Erste „Ordnungsstrafen” gegen kirchliche Stellen, die ihn spielen und singen ließen, wurden schon verhängt. Eine Straße führt weg von der Sophienkirche, zwischen wie aus schwarzer Pappe geschnittenen Häuserfronten hindurch. Fenster glühen gelb über bröckelnden Gesimsen. In Müll- und Bauschuttbergen suchen Betrunkene ihren Weg durch eine Landschaft des Verfalls. Ich durchmesse Kubins Patera- Alptraum auf meinem einsamen Gang durch das nächtliche Ost-Berlin.

Die „Möwe” in der Maternstrage, unweit der Friedrichstrage, ist fast unter eine stählerne Eisenbahnbrücke gedrückt. Luster schimmern durch halbverhängte Fenster, Gläser klirren und Barmusik sickert auf die schlechtbeleuchtete Straße. Im „Künstler- Club” trifft sich die Ostberliner Kultur-Schickeria. Wir werden abgewiesen, dem Autor, der mir Einblick gewahren wollte in den verschwiegenen Vergnügungsplatz einer angepaßten Kulturelite, die es in diesem Staat eigentlich nicht geben dürfte, droht man mit der „Meldung beim Schriftstellerverband”. Man fürchtet das lose Mundwerk alkoholisierter Künstler und in westlichem Schick gekleideter Wichtigtuer, die das Bild des verantwortungsbewußten „Kulturschaffenden” trüben konnten.

Erneute Scham über die Prozeduren, mit denen man Menschen trennt - ein zuverlässiges deutsch-deutsches Gefühl? Von der Sophienkirche zum Künstlerclub: Ein Gang durch die Nacht Ost-Berlins lehrt, daß es noch andere Mauern in Berlin gibt, Mauern, an denen nicht geschossen wird.

www.heimo-schwilk.de